Wenn ich versuche, den Zeitgeist in dem
ich gerade lebe zu beschreiben, so würde ich ihn mit dem Wort
Komplexität wohl am besten fassen. Wir Menschen, so scheint
es, stehen an der Spitze unserer Entwicklung und müssen gleichzeitig
mit der Unmöglichkeit kämpfen, all die Erkenntnisse unserer Zeit zu
verarbeiten und mit ihnen zu leben.
Die Naturwissenschaften haben uns durch
die Entwicklung von Technik und durch die Ergebnisse ihrer
Untersuchungen ein unüberschaubares Maß an Wissen ermöglicht, zu
dem wir theoretisch alle Zugang haben.
Wir leben im Zeitalter der
Globalisierung, die viele kleine Teile miteinder vernetzt. Durch
Medien, Zeitung, Fernsehen, durch moderne Kommunikation, durch
Internet und Telefon, durch Transportmöglichkeiten mit denen wir in
kürzester Zeit um den Globus reisen können, durch all das können
wir, so scheint es, die Welt überblicken. Die Welt im Großen und
Ganzen sehen.
Wir beobachten im Fernsehen die
Gräultaten in Syrien, wir chatten mit Freunden in den USA, wir sehen
Livestreams von Demonstrationen in Istanbul. Wir lesen, dass die
Neurobiologie festgestellt hat, dass es letztendlich keine freien
Gedanken und Ideen gibt, denn alle geistigen Zustände basieren
letztendlich auf chemischen Prozessen im Gehirn. Wir hören von der
Wirtschaftskrise, von Krieg und Hunger, wir lesen, dass das Universum
12 Milliarden Jahre alt ist und der Mensch nur einen minimalen
Augenblick davon existiert. Auf der Straße begegnen uns die
unterschiedlichsten Lebenskonzepte, Väter die Kinderwägen schieben,
Karrierefrauen mit I-Phone am Ohr, Yogimeister die von Erleuchtung
sprechen, Motzverkäufer vor dem Supermarkt. Man spricht von Werten
wie Ehre, Religion und Freiheit und Selbstbestimmung. In der Schule
lernen wir, dass der Mensch vom Affen abstammt und entscheiden
zwischen Ethik und Religionsunterricht. Jeder beliebige Begriff, den
wir bei Google eintippen, liefert uns in Sekundenschnelle eine
Erklärung. Wir können so viel wissen und hören so viel.
Und ich bin ich ein Mensch mit einem
Alltag in Berlin. Ich gehe zur Uni, ich treffe Freunde, ich blättere
in Zeitschriften um mich über belanglosen Tratsch zu amüsieren. Ich
schaue jeden Abend die Tagesschau, habe vage Pläne für die Zukunft,
will einen Job mit Prestige und Geld verdienen, vielleicht eine
Familie gründen, irgendwie die Welt verbessern. Ich stehe jeden Tag
auf, trinke Fairtrade Kaffee und Biomilch aus Rücksicht auf meine
Umwelt, ich kaufe Essen im Discounter um Geld zu sparen, ich sitze im
Park und genieße die Sonne, ich treibe Sport um nicht zuzunehmen,
ich diskutiere in der Uni über große Weltprobleme, ich schaue Filme
über Israel und sehe mir im Kino Komödien an. Das ist meine
Lebenswirklichkeit.
Die Welt, in der ich lebe, scheint sich
irgendwie in zwei Extreme aufzuteilen. Es gibt die große Welt da
draußen, mit dem Wissen der Naturwissenschaften, mit Kriegen und
Debatten, der philosophischen Erkenntnis dass Gott tot und Sinn
höchstens subjektiv ist. Und es gibt meinen kleinen Alltag, in dem
mir wichtig ist, was ich heute Abend esse, ob ich auf einer Party
jemanden kennen lerne, was ich morgens anziehe und wann ich die
nächste Hausarbeit endlich abgeben kann.
Wie könnte man diese großen Extreme
besser auffassen als mit dem Wort Komplexität?
Die Welt ist komplex und weil wir all
das Wissen, zu dem wir irgendwie Zugang haben, nicht verarbeiten und
unmöglich alles selbst verstehen können, verlassen wir uns auf die
Worte von Experten. Experten haben die Eigenschaft, vermeintlich
verworrene Dinge als bündige Fakten in abgeschlossenen Einheiten zu
präsentieren. Die Wirtschaftskrise, der Klimawandel, die Wirkung vom
Gehirn auf unsere geistigen Zustände, Kriegsberichte aus Afrika, die
Entstehung des Universums. Überall liefern uns Experten scheinbar
abgeschlossene und vollständige Erklärungen.
Sobald man ein bisschen genauer
hinsieht, erkennt man, dass die großen Fragen bleiben. Alle Theorien
weisen Lücken auf – je komplizierter die Begriffe, desto
verworrener die Bedeutungsmasse, auf die sie hinweisen. Letztendlich
also viel Schall und Rauch. Der Klimawandel ist eigentlich nur ein
Diskurs, Kriegsberichte stellen bloß subjektive Erfahrungen
einzelner Reporter da, Statistiken basieren auf Stichproben geringer
Anzahlen von Menschen, wir können bloß Korrelationen zwischen
Emotionen und Gehirnströmen messen, die Evolutionstheorie weist
Lücken im Sprung vom Affen zum Menschen auf, die Urknalltheorie
basiert auf Grundannahmen die sich letztendlich nicht beweisen
lassen, es gibt Placeboeffekte, Nahtoderfahrungen und
Selbstheilungsprozesse die niemand versteht.
Und auch mein eigenes kleines Leben ist
komplex und widersprüchlich. Meine Persönlichkeit wandelt sich mit
den Leuten, die ich treffe, ich sehe einen Film und ändere meine
Meinung zum Fleischkonsum, ich will eigentlich Künstler sein und
arbeite in einem Büro am Computer, wenn die Sonne scheint bin ich
glücklich und zufrieden, wenn es grau wird und beginnt zu regnen
werde ich trübsinnig und einsam, ich will eigentlich Familie aber
doch frei und selbstständig sein, ich vermisse meine Mutter aber
werde wütend, wenn wir zu lange telefonieren, mich inspiriert die
Natur und ich bin ständig in der Stadt, ich weiß, dass Geld nicht
glücklich macht und verfasse Bewerbungen für besser bezahlte Jobs.
Was soll das alles? Ich sehe diese
Wirklichkeit, in der ich lebe, ich sitze hier und versuche, vor
meinem inneren Auge ein Bild zu entwerfen von der Welt, in der ich
bin. Angestrengt bemüht, der Tiefe meiner Gedanken zu folgen und ein
klares Bild zu zeichnen rauscht die Zeit, und ich weiß schon, dass
ich bald abschweifen werde, um mich anderen Dingen zuzuwenden, dem
Sportkurs am Abend und dem Treffen mit meiner Freundin, unabhängig
davon, ob ich mit meinen Überlegungen gerade weiterkomme oder nicht.
In eben diesem Moment, jetzt also, in dem ich mir der Komplexität
meiner Lebenswirklichkeit für einen Augenblick so klar bewusst bin,
versuche ich, ganz scharf darüber nachzudenken, ob das alles
irgendeinen Sinn ergen kann. Irgendeine Bedeutung, eine Erklärung,
Begründung, etwas Höheres das mir all diese Widersprüche, dieses
wirre Bild erklärt. Eine Antwort auf alle Fragen.
Natürlich finde ich keine Antwort. Ich
habe keine plötzliche Gotteserfahrung, spüre keine Eingebung, keine
mystische Kraft die mir irgendetwas sagt. Ich schaue aus dem Fenster,
draußen scheint die Abendsonne und wirft ein warmes Licht gegen die
Häuserwände. Ein schönes Bild, ein gutes Gefühl. Mir kommt ein
neuer Gedanke. So unbefriedigend es ist, keine Antwort zu kennen,
keinen Sinn zu sehen, keine Erklärung für diese unüberschaubaren Wirrungen, den vielen Rätseln der Natur und der Psyche – ist
das nicht auch ein schöner Gedanke? Bei all dem Wirrsal; ist es
nicht immerhin nett, zu wissen, dass selbst die großen Erklärungen
begrenzt sind? Dass die Naturwissenschaften die Welt und uns Menschen
nicht vollständig erklären können? Dass die Welt und wir Menschen
in ihr komplex sind, rätselhaft und undurchschaubar... Lässt diese
offene Lücke nicht auch Platz für eine offene Möglichkeit?
Denn was wäre die Alternative? Ein
vollständig erklärendes Weltbild das alle Fragen löst? Eine Welt
in der es keine Fragen mehr gibt? Aber offene Fragen lassen Antworten
offen. Das Denken der Möglichkeit also, dass es eine Bedeutung gibt,
einen Sinn, der über all das hinaus geht was wir erkennen und der
angesichts der ganzen Komplexität der Welt auch selbst so komplex
und ungreifbar sein muss, dass ich ihn hier und jetzt mit meinem
Verstand nicht begreifen kann. Die undurschaubare Rätselhaftigkeit der Welt erweckt in mir einen Funken von Hoffnung
auf Sinn.
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