Donnerstag, 13. Juni 2013

Streifzug Ulli: Jeder kriegt, was er verdient? - Im Jobcenter


VORGEPLÄNKEL

Der Türsteher sieht mir prüfend ins Gesicht. Ich hatte mir schon gedacht, dass es nicht ganz einfach sein würde, zusammen mit meinen Freunden das Jobcenter zu betreten.

Ich höre ein erbostes Schnauben und sehe, wie neben mir Ginnys Dreadlocks langsam anfangen, nervös auf und nieder zu zucken, als ihre Taschen abgeklopft werden. Ein schlechtes Zeichen. Ich hoffe, dass sie sich beherrschen kann.

Der Yogi Savinda ist hingegen wie immer die Ruhe selbst. Er lächelt dem Uniformierten milde zu, als dieser skeptisch dessen flatternde orange Hose beäugt. Mit einer würdevollen runden Bewegung breitet er unaufgefordert die Arme für die Security-Kontrolle aus. Dabei wirkt er eher so, als würde er auf das offene Meer schauen, anstatt auf den tristen Betonbau vor ihm.

„Ich sagte doch schon, wir haben keinen Termin und wir wollen übrigens auch niemanden überfallen! Was soll diese ganze Kontrolle? Jetzt glauben Sie uns doch einfach, dass wir hier nur einen Bekannten abholen wollen.“, jault Ginny empört auf. „Ihr Kollege, er arbeitet hier und hat heute Geburtstag. Manfred oder Jürgen, ach nein... Herbert heißt er. Was denken Sie denn, was ich sonst in Ihrem Hochsicherheitstrakt verloren hätte?“

Während der Türsteher Ginny beiseite führt um ihren Jutebeutel auszuleeren kommt Oscar in seinem Nadelstreifenanzug herbeigelaufen. Er hatte sich auf dem Weg ein wenig zurückfallen lassen, da seine neue Börsen App ihm Probleme zu bereiten schien. Ohne von seinem Smartphone aufzublicken schlendert er am zweiten Security-Beamten vorbei, der bescheiden einen Schritt zurücktritt.
Ich nutze die Gelegenheit um mich blitzschnell anzuschließen und auch Savinda schreitet nun wie zufällig Richtung Eingang. Perplex schaut uns der Uniformierte hinterher und zückt schließlich sein Funkgerät. Im Hintergrund höre ich Ginny zetern.

Wir finden uns beim Aussteigen aus dem Fahrstuhl im dritten Stock einer großen Gruppe von Menschen, diversen Büro-Schaltern und Absperrbändern gegenüber.

Sieht irgendwie aus wie am Flughafen. Nur ist in den Gesichtern keine Vorfreude auf die karibischen Inseln zu lesen. Hände umklammern Formulare, gesenkte Köpfe blicken auf den grauen Laminatboden oder mehr oder weniger teilnahmslos zu der Anzeigetafel mit den Wartenummern. Einige laufen auch unruhig im Kreis auf und ab oder versuchen ihre kleinen Kinder zu beruhigen. 


Statt an bunten Flugzeugpiktogrammen läuft man in der Warteschlange alle paar Meter an einem rot umrandeten Schild vorbei, das eine unmissverständliche Aufforderung von sich gibt.

Bitte ordnungsgemäß anstellen und Anträge bereithalten!“

Bitte Beachten: Sonderanträge nicht formlos gültig!“

Bitte beachten! Wenn aufgrund von Mittellosigkeit Barauszahlung erforderlich ist, bitte die Kontoauszüge der letzten 4 Wochen bis heute lückenlos vorlegen.“

Während ich noch etwas ratlos in der Gegend herumschaue, unterbreitet uns Oscar seinen Plan, wer bei der Suche welchen Bereich abdecken soll, um Ginnys Freund Herbert schnellstmöglich und effektiv zu finden, obwohl ihn noch niemand von uns kennt.
Davon unbeeindruckt wandelt Savinda mit einem seichten Lächeln auf den Lippen geradeaus davon, durchstreift die unruhige Menge und überschreitet elegant sämtliche Absperrungen, bis er schließlich in einem Gang verschwindet. „Wo geht er denn jetzt hin?“, erkundige ich mich bei Oscar. Der zuckt ärgerlich die Schultern. „Frag ihn bloß nicht, sonst sagt er nur: Der Weg ist das Ziel, oder irgend sowas.“

Ich nehme mir an Beispiel an Savinda und laufe wahllos einen der Gänge hinunter. An den Türen stehen die Namen verschiedener Mitarbeiter. Ob deren Büros wohl ein bisschen gemütlicher sind? Bei einem er Büros steht die Tür offen. An der Tür steht der Name 'Herbert Müller'. Ich linse hinein.


JEDER KRIEGT, WAS ER VERDIENT?




„Da sind Sie ja doch noch. Kommen Sie herein.“, fordert mich eine müde Stimme auf. Ich gehorche zögernd. „Setzen Sie sich.“

Der Mann mit den schlaffen Schultern und dem schütteren grauen Haar scheint irgendwie durch mich hindurch zu schauen, als monoton er erklärt: „Ich bin Ihr neuer persönlicher Ansprechpartner in Sachen Arbeitsvermittlung.“ In resigniertem Tonfall fügt er leise hinzu: „Ihr Fall wurde natürlich wieder mal zu mir verschoben“.

„Sie haben Ihre letzten drei Termine versäumt.“
„Tatsächlich?“
„Sie wissen, dass es Ihre Pflicht ist, sich regelmäßig bei uns zu melden.“
„Achso...“
„Wissen Sie, wir sind hier keine Bank. Ich muss hier auch regelmäßig erscheinen und etwas für mein Geld tun. Das müssen Sie deshalb auch, verstehen wir uns?“


Ich überlege kurz, ob ich Herrn Müller darüber aufklären soll, dass ich heute zum ersten mal im Jobcenter bin, entscheide mich dann aber dagegen. Er sieht sowieso schon so angestrengt aus, dass ich ihm die Verwirrung lieber erspare.
„Natürlich halte ich Sie nicht für eine Bank.“, antworte ich beschwichtigend.

„Wieso erscheinen Sie dann nicht zu Ihren Terminen? Finden Sie das gerecht, dass ich hier von morgens bis abends Kunden empfange, Anträge über Anträge auswerte und Sie ihr Geld hinterher geworfen bekommen? Man kann nicht immer nur haben, haben, haben. Man muss dafür auch etwas tun. Keine Leistung ohne Gegenleistung.“

 
„Und was könnte meine Gegenleistung sein?“
„Tun Sie alles erdenkliche um einen Arbeitsplatz zu finden!“
„Und wenn es keinen Arbeitsplatz für mich gibt?“
„Dann erscheinen Sie trotzdem zu ihren Beratungsterminen, füllen Sie anständig und pünktlich Ihre Anträge aus, bewerben Sie sich überall, wo es geht, und schauen Sie nicht so viel Fernsehen.“
Herr Müller wird langsam munterer.
„Aber wieso ist das dann gerechter, das hilft Ihnen doch auch nicht weiter, oder?"


Es entsteht eine irritierte Pause. Herr Müller schaut von seinem Bildschirm auf und scheint mich das erste Mal wirklich anzuschauen. Nachdrücklich erklärt er: "Jeder muss einer Erwerbsarbeit nachgehen. Man muss sich seinen Lohn verdienen."
Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu: "Aber Sie sind nicht hier, um mit mir über Gerechtigkeit zu reden, Sie wollen nur Ihr Geld und dann wieder verschwinden, oder?“
"Naja, eigentlich bin ich nur hier um jemanden zu suchen...Trotzdem interessiert mich auch, wie Sie eigentlich Ihre eigene Arbeit finden."

Verwundert über die Gegenfrage kratzt sich Herr Müller nachdenklich am Kopf und setzt schließlich einen wehmütigen Blick auf.
„Früher hätte ich nie mit einem Kunden über mich geredet. Wissen Sie, früher hat mir dieser Beruf auch wirklich noch Spaß gemacht. Ist ja auch eine verantwortungsvolle Aufgabe. Schließlich gilt es, genau einzuschätzen, wer welche Chancen auf einen Arbeitsplatz hat und wem wieviel zusteht.“
 
Seine blauen Augen leuchten plötzlich unter dem grauen Haarschopf hervor.
„Wer motiviert und talentiert ist und wer faul. Und ich habe gegeben was ich konnte. Mit guten Resultaten. Zuckerbrot und Peitsche, wissen Sie. Und meine Kunden haben mir zugehört und waren dankbar. Aber ehrlich gesagt, irgendwie hat sich das alles geändert, hier ist kaum noch jemand richtig motiviert, wie denn auch? Außerdem bin ich zu alt für sowas. Man altert hier schneller als anderswo.“



„Jeder bekommt, was er verdient. Das ist mein Grundsatz und das wird es auch bleiben. Aber wissen Sie eigentlich, wie schwer das manchmal festzustellen ist, was jemand verdient?“
Er seufzt gequält und hebt einen riesigen Papierstapel hoch, den er geräuschvoll wieder auf den Tisch fallen lässt.



„Nehmen wir mal Ihr Beispiel. Sie gehören jetzt zum Teil der 80% nicht-wiedereingliederungsfähigen Kunden. Was soll ich denn mit Ihnen anfangen?“
Ich zucke schuldbewusst die Achseln und bemühe mich, ihm einen aufmunternden Blick zuzuwerfen.

Er blickt kurz irritiert hoch: „Aber da schreiben Sie jetzt keine Zeitungs-Columne drüber, oder? Hatte ich neulich auch schonmal... Das dürfen Sie nämlich eigentlich nicht sehen, aber gut, also hier ist ihr Profil.“
Er dreht den Computer-Bildschirm zu mir.
„Schauen Sie, hier in Ihrem Persönlichkeitsprofil steht schon eine Menge, das soll ich heute überarbeiten. Also, Sie sind 'eher reizbar', 'schwer zu motivieren' und 'erscheinen regelmäßig zu spät zu Ihrem Beratungstermin'.“


Er wirft mir einen prüfenden Blick über den Rand des Bildschirms zu.
„ Außerdem besuchen Sie Ihre Wiedereingliederungsmaßnahme nur sehr unregelmäßig, steht hier.“
'Wiedereingliederung'? Bin ich denn irgendwo 'ausgegliedert'?“

„Na selbstverständlich. Aus der Arbeitswelt und damiteigentlich gewissermaßen auch aus der Gesellschaft. Aber, keine Angst“, fährt er in beruhigendem Ton fort, als er meinen erschrockenen Blick sieht, „dafür gibt es ja die 'Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung'. Sie sind dazu da, Sie wieder an feste Strukturen zu gewöhnen. Damit Sie wieder lernen morgens früh aufzustehen. Feste Alltagsstrukturen sind das A und O. Das erleichtert Ihnen später den Einstieg in die Arbeitswelt.
Obwohl...bei Ihnen sieht das ein bisschen anders aus. Sehen Sie? Sie sind hier schon als 'arbeitsunwillig' eingestuft. Also Sie sind wirklich schon ziemlich weit unten in der Langzeitarbeitslosigkeit gelandet...“

Er wirft mir einen väterlichen Blick zu, der mich wahrscheinlich aufmuntern soll. „Bei Ihnen dient die Maßnahme eigentlich nur zur Strukturierung Ihres Alltags, das bewahrt Sie z.B. vor Depressionen und naja, die Quoten und Statistiken sind auch nicht ganz unwichtig, wir haben schließlich unsere Auflagen.“

„Was ist denn das für eine 'Maßnahme'?“ erkundige ich mich vorsichtig.
„'Drogenprävention'“
„Nehme ich Drogen? Nur weil ich keinen Job habe?“, frage ich erschrocken.
„Nein, nein. Ich sage meinen Kunden doch immer wieder, dass wir ihnen damit nichts unterstellen wollen. Es soll nur eine Unterstützung für den Fall der Fälle darstellen. Jetzt sein Sie doch nicht so gekränkt, Sie gehen ja sowieso nie hin!"


"Außerdem wollte ich auf etwas ganz anderes hinaus.“
Sein Blick wandert wieder müde zum Papierstapel.
„ Es ist jetzt endlich mühsam errechnet, was Ihnen zusteht. Sie wissen gar nicht, wieviel Arbeit hier drinsteckt. Aber Sie haben ja sowieso keine Vorstellung von Arbeit, darum sitzen Sie ja hier...
Man kann Ihnen aber zu Gute halten, dass Sie nicht ständig Sonderanträge stellen, die der Prüfung bedürfen. So etwas wie das Mittagessen für Schulkinder. Aber Sie haben ja zum Glück keine Kinder.“

„Trotzdem. Bei Ihrem Profil kann ich mir gut vorstellen, dass bald ein Prüfdienst zu Ihnen geschickt wird. Das müsste ich eigentlich mal veranlassen... Die kommen dann unangemeldet in Ihre Wohnung und schauen Ihre elektronischen Geräte an, messen ihre Quadratmeter nach... Falls Sie einfach nur ein Schmarotzer des Sozialstaats sein sollten. Und dann haben Sie natürlich 10 Quadratmeter mehr als angegeben in Ihrem Wohnzimmer. Und schon geht die ganze Rechnerei wieder los... Wissen Sie, ich saß mal in der 'Leistungsvergabe', also unserer Rechnungsstelle, das war auch nicht ganz leicht, wenn vielleicht auch angenehmer als mit den 80% Nicht-Wiedereingliederungsfähigen...“

„Und es ist nicht nur, dass das höllisch viel Arbeit macht, allen Leuten ständig hinterherzukontrollieren. Wenigstens bringt das unsere Mitarbeiter in Lohn und Brot. Nur manchmal ist es einfach zu frustrierend. Neulich, als alles mühsam errechnet war, habe ich einen Kunden zum psychologischen Dienst geschickt, damit dort für mein Profil einmal in Ruhe festgestellt werden kann, ob er überhaupt arbeitswillig ist. Da geht es darum, das wahre Gesicht des Kunden kennenzulernen.



Und was macht dieser sogenannte Dienst? Anstatt mir einfach zu bestätigen, dass der Kunde arbeitsunwillig ist, steht da etwas von psychischen Blockaden und Traumata. Was soll ich denn damit anfangen? Ich kann doch jetzt nicht anfangen miteinzukalkulieren, ob jemand in seiner frühen Kindheit nicht von seiner Mutti geliebt wurde, das ist doch hoffnungslos... Außerdem stand da, ich würde zu viel Druck auf ihn ausüben und seine Persönlichkeit nicht respektieren. Die Leute sind doch alle verrückt geworden. Ich will doch nur das Beste für ihn, nämlich ihm einen Arbeitsplatz verschaffen und ihm beibringen, dass man etwas für sein Geld tun muss...“

Ich nicke verständnisvoll. „Vielleicht funktioniert das mit dem Einkategorisieren und dem Verdienstprinzip in der Praxis einfach nicht ganz so gut.“
„Vielleicht...“
„Und fühlen sich nicht manche Kunden etwas gekränkt, wenn sie immer nur danach bewertet werden, ob sie einer anerkannten Erwerbsarbeit nachgehen und ihnen automatisch unterstellt wird, dass sie faul sind? Zumal es ja auch einfach aus strukturellen Gründen nicht genug Arbeitsplätze gibt."
Herr Müller zieht grimmig die Augenbrauen zusammen.

Ich wechsle schnell das Thema:
„Das kostet doch auch alles ganzschön viel, festzustellen, wer was verdient, oder?“
„Unsummen und am Ende bleibt es trotzdem immer vage.“
„Ich habe mal gehört, dass man von dem Geld, das man in der Arbeitsverwaltung einsparen könnte, sogar ein Grundeinkommen finanzieren könnte.“
„Ein Einkommen, das man sich nicht verdient?“
„Naja, man verdient es sich nicht durch Erwerbsarbeit. Es reicht sozusagen aus, dass man ein Mensch ist. Es würde auch nur das abdecken, was man zum grundlegenden Lebenserhalt braucht und dafür müsste man auch nicht kontrolliert und kategorisiert werden."
„Das geht nicht. Vielleicht finanziell. Aber moralisch? Jeder soll nur bekommen, was er verdient.“

2 Kommentare:

  1. Der Bandwurm
    wollte zur Polizei. Nichts zu machen. Es ist bekannt, dass ausser der Nationalität eine gewisse Mindest- und Höchstkörpergrösse vorgeschrieben ist. Der Bandwurm war einfach zu lang. Auch seine Motivation konnte ihn nicht verkürzen.
    So wurde der Bandwurm Arbeitsamtsbeamter, was auch eine gewisse Überwachungs- und Ausfragetätigkeit beinhaltet. Schliesslich muss der Arbeitsamtsbeamte auch herausfinden, ob sich der Arbeitssuchende tatsächlich auf Arbeitssuche befindet. Die offizielle Hauptaufgabe des AA-Beamten ist es aber, den Arbeitssuchenden der Arbeit zuzuführen.
    Der Bandwurm hatte sich daher vorgenommen, nach jeder erfolgreichen Vermittlung eins seiner Endstücken zu verlieren, sich so zu verkürzen und irgendwann einmal doch in den Polizeidienst aufgenommen zu werden.
    Nun ist in jedem Gesundheitsbuch nachzulesen, dass dem Bandwurm, ganzgleich in wessen Dienst er gerade steht, hinter seinem Saugkopf immer ein Stück nachwächst, wenn er unten eins verliert, und dass dieser Vorgang nur durch aggressive medizinische Tinkturen aufzuhalten ist, die seine schmarotzenden Saugnäpfe ausser Kraft setzen und ihn in voller Länge im Toilettenbecken verschwinden lassen, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, sich mit seinem stinkendem Lebenslauf bei irgendeiner Behörde vorstellen zu können.
    (aus Schnater : Die Sackratte, 25 längst überfällige Richtigstellungen)
    https://vimeo.com/55224501

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  2. Oh ja, wir mögen Bandwürmer auch sehr gerne.

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